Carsten Tabel__Seilungen
In einem kurzen Text seines Lesebuchs „Glückliche Umstände, leihweise“ kommt Alexander Kluge auf den Ursprungsmoment seines schriftstellerischen Schaffens zu sprechen. Der Autor macht retrospektiv eine Notsituation dafür verantwortlich, dass er sich bereits als Fünfjähriger in der Kunst der gedanklichen Zusammenführung üben musste. Vater und Mutter hatten beschlossen, die untrennbare Einheit, die sie für ihren Sohn bildeten, aufzulösen. Was bislang miteinander verbunden war, wurde zu zwei Teilen, die nicht mehr zueinander gehören wollten. Ein Zustand, den der junge Kluge nur schwer nur ertragen konnte. Er habe dann versucht, diese beiden Erwachsenen wieder zu einer Einheit zusammen zudenken. Koste es, was es wolle. Aber die Kraft der Gedanken reichte nicht aus, um aus einer latenten Struktur ein manifestes Ganzes zu rekonstruieren. Aus diesem Scheitern leitete sich für Kluge eine schriftstellerische und intellektuelle Verpflichtung ab, nämlich weiterhin zu versuchen, zusammen zu denken, was scheinbar nicht zusammengehört – die Auflösung der tatsächlichen Verhältnisse zugunsten einer gedanklichen Einheit.
Wenn Bea Meyer ihre Seilungen vornimmt, setzt sie an ähnlicher Stelle an. Auch ihr geht es um das Herstellen von Zusammenhängen, um das Verbinden mehrerer Variablen zu einer ästhetischen Einheit. Wie die kurzen Texte des Schriftstellers Kluge entstehen auch Meyers Verknotungen textiler Materialien aufgrund von spontanen Ahnungen, antizipierten Möglichkeiten oder sich anbahnenden ästhetischen Beziehungen. Während es bei Kluge aber stets um Möglichkeit und Unmöglichkeit des Verbindens als metaphysische Praxis geht, setzt Meyer die erahnten Verbindungen in die Realität um und macht damit etwas sichtbar: Tatsächlich wirken manche ihrer Seilungen als wären sie von selbst entstanden, anderen sieht man wiederum die Gewalt oder auch die Hingabe an, die nötig waren, um zusammenzubringen, was vielleicht gar nicht zusammengehört. In ihrer Gesamtheit werden sie so zu einer alle-gorischen Typologie menschlicher Bindungen.
Bea Meyer schafft es durch ihre Seilungen, das Gespräch über die mensch-liche Fähigkeit zur Bindung neu aufzunehmen und in eine andere Richtung zu führen. Vielleicht lernen wir, unsere Verbundenheit mit anderen und der Welt durch die Begegnung mit Meyers Seilungen anders zu denken, können aufhören, mit diffusen Begriffen wie Liebe, Freundschaft, Feindschaft, Sympa-thie zu hantieren, die nur vorgeben, Bindung definieren zu können. Vielleicht sind unsere Beziehungen in und zu dieser Welt nicht anderes als Seilungen – sich in der Vertikalen abspielende, ästhetisches Ereignisse. Etwas, das uns von innen stabilisiert, in unserer Aufrichtigkeit.