Fotos: Mareike Tocha

Hallo Brüste
von Heike Geißler

Liebe X, lieber X,
komisch, plötzlich diese Lust, mein Leben aus der Perspektive meiner Brüste zu erzählen. Und kaum denke ich darüber nach, vermute ich, es wäre nicht mein Leben aus der Perspektive meiner Brüste erzählt, sondern das Leben der Brüste. Meine Brüste erzählen ihr Leben. Und wenngleich es meine Brüste sind, weiß ich nicht, inwiefern ich in deren Erzählung vorkäme, vielleicht wäre ich nur eine Randfigur.
Wer wäre ich?
Der Eindruck, meine Brüste gehören nicht mir. Meine Brüste waren jemandes Besitz, aber gehören jetzt niemandem (mehr). Ich setze mein kompliziertes Verhältnis zu Besitz und Nähe bei meinen Brüsten fort und lasse sie frei. Es passiert dies: Ich sehe sie ziehen, wenngleich ich sie nicht sehe. In dieser Vorstellung sind sie unsichtbar, entziehen sich der Visualisierung. Ich spüre, sie gehen.
Ich weiß natürlich, dass sie noch da sind, ich sehe und spüre sie ja mehrfach täglich, zum Beispiel jetzt.
Ich winke meinen unsichtbaren Brüsten hinterher. Ich stehe irgendwo und winke meinen Brüsten wie ein Clown mit einem nicht enden wollenden Taschentuch hinterher und wische mir mit selbigem Taschentuch halb echte, halb vorgetäuschte Tränen ab. Wir, also meine Brüste und ich, oder die Brüste und die zu ihnen Gehörende, haben partiell ein aus Witzen gemachtes Verhältnis. Wir sind durch Humor miteinander verbunden.
Ich muss innehalten und konstatieren: Ich spreche da nicht für meine Brüste. Ich habe den Eindruck, sie würden dieser Beschreibung unseres Verhältnisses widersprechen.
Die Brüste ziehen, komischerweise ziehen sie in eine Landschaft, wie ich sie vor allem aus der Malerei des sozialistischen Realismus kenne. Ein Regenbogen, ein hoher Fabrikschornstein, Felder, ein Traktor, Menschen mit langen Beinen, sehr großen Füßen, weit ausholenden Schritten. Da hinein ziehen die Brüste, gehen aber auch darüber hinweg. Sie entziehen sich mir und den Bildern.
Mir ist als sagten sie: Du hattest deine Chance.
Mir ist aber sowieso schon die ganze Zeit nach Abschied zumute.

Liebe X, lieber X,
wie kann eine ihre Brüste gehen lassen?
In letzter Zeit begegnete mir ab und an der etwas grobe Witz, den ich zuerst bei Tig Notaro gehört habe: Dass ihre Brüste sich gegen sie gewendet hätten, nachdem sie sie jahrelang nicht, eigentlich nie gemocht hatte. Meine Brüste, so Tig Notaro, dachten sich wohl Let's kill her und hätten dann einen Krebs entwickelt, der aber schließlich mitsamt der Brüste entfernt werden konnte.
Ich habe also jedenfalls festgestellt, dass, wenn ich hallo, Brüste sage und damit meine Brüste meine, eine eigenständige Erzählung beginnt.
Und ein Erinnern an meine Brüste.
Ich erinnere mich an meine Brüste allerdings wie an allgemeine, verschlagwortete Objekte.
Ich habe den Eindruck, ich erinnere mich nicht.

Liebe X, lieber X,
kaum versuche ich, mich zu erinnern, kommt mir eine Unlust in die Quere. Ich will mich nicht erinnern, weil ich mich so gut erinnere. Ich erinnere mich zu gut, wie ich meinen Körper von oben bis unten, von außen bis innen den Blicken und Erwartungen anderer angepasst habe. Ich habe meinen Körper nie vor den Erwartungen und Blicken anderer beschützt. Ich habe mich nie schützend vor meinen Körper geworfen. Ich habe mich nie schützend vor meine Brüste geworfen und ihnen alle Zeit der Welt gegeben.
Ach, Brüste.
Ist es so, dass ich sagen kann: Meine Brüste und ich wurden in unseren Versuchen, zusammenzugehören immer wieder unterbrochen?

Liebe X, lieber X,
ich sehe seltsamerweise ein Buch, einen dicken Folianten, eine Art Fotoalbum. Ein Album, wie ich es nicht besitze. Es wird in meiner Vorstellung aus einer Truhe gezogen, der Staub wird weggepustet, es wird langsam, sorgsam aufgeblättert. (Eine Szene, wie man sie aus allen möglichen Filmen kennt. Nur geht es in diesem Album hier um meine Brüste.)
Ich sehe dank des Albums die Schaumbrüste in der Badewanne, sehe mich wenige Jahre später im Flur springen, um zu schauen, ob mir wenigstens schon kleine Brüste gewachsen sind. Aber nichts wackelte. Ich erinnere mich an meine Ungeschicklichkeit beim Auspolstern eines Badeanzugs (mit Watte, sie wurde im Wasser zu Klumpen), daran, wie mir beim Tanzen die Pads aus dem BH fielen, wie jemand fragte: Was ist das? Und ich sagte: Keine Ahnung, aber ich heb's mal auf. Ich erinnere mich an das vollkommene Einverständnis mit meinem ganzen jugendlichen Körper in Binz am Strand und daran, wie meine Mutter mir befahl, das Bikinioberteil wieder anzuziehen.
Ich schlage den Folianten zu.
Ich sollte Euch sagen, wie es mir jetzt geht: Ich räume alles auf, ich sehe alles an. Ich habe den Eindruck, vollkommen neu zu beginnen. Und beispielsweise streife ich den Körper ab, ohne ihn abzulegen. Ich trage all das von mir ab, was sich angelagert hat: Zuschreibungen, Erwartungen, Mutmaßungen, Ansprüche, Begehrlichkeiten, Konsum und Projektion.
Ich möchte ja nicht so weit gehen zu sagen: Ich hatte öffentliche Brüste.
Aber meine waren es nicht.
Meine Brüste waren Allgemeingut im schlechtesten Sinn.

Liebe X, lieber X,
rückblickend denke ich, es handelte sich bei mir eventuell um einen eigentlich zur Brustlosigkeit bestimmten Menschen (wer wäre das eigentlich?), der durch Zufall an ein paar Brüste geriet und mit diesen nicht gut umzugehen wusste.
Wie auch, nicht wahr?
Alles, was mir durch meine Brüste, was an, mit und in ihnen passierte war mir fremd, manchmal unangenehm, schmerzvoll, peinlich, manchmal vergnüglich, lustvoll, toll.
Ich sehe also meine Brüste mir sozusagen zum Abschied winken und freue mich, ihnen wieder zu begegnen, wenn ich mehr Zeit für sie habe.
Ich verwandele ansonsten und bis dahin alle Zuschreibungen, Erwartungen, Mutmaßungen und Ansprüche an meine Brüste in Analysen, Vorwürfe und Kritik.

Und wie geht es Euch?

Der Text entstand nach einem Gespräch mit Nigin Beck über ihre Ausstellung Transformers.